Eva â Herveva. Mutter-Kind-Beziehungen
In âHervevaâ tappt ein Kleinkind mit hellem Haar vorsichtig ĂŒber eine ovale, blau gefĂ€rbte BetonflĂ€che. Die gesamte Konzentration auf den nĂ€chsten, unsicheren Schritt gerichtet scheint es die Kamera gar nicht zu bemerken. Das farblich zur Umgebung passende, geblĂŒmte Kleidchen verortet das Kind in seiner eigenen kleinen Zone, welches es unter dem wachsamen Blick des Betrachtenden zu erkunden scheint. Die Aufnahme dokumentiert jedoch nicht nur eine kontemplative, kindliche Exploration der schattig-sommerlichen Oase:
Durch die leicht erhöhte Aufsicht prallt der Fokus im selben MaĂe auf das suggerierte, abernicht sichtbare Subjekt hinter der Kamera zurĂŒck. Nur durch die zwischengeschaltete, technische Apparatur getrennt blicken wir also tatsĂ€chlich durch die Augen einer Mutter.
In ihrem elf Jahre anhaltenden und eine Auswahl von insgesamt 70 Fotografien fassenden Langzeitprojekt â2 Ein Kindâ, dokumentierte und inszenierte die KĂŒnstlerin Eva Bertram das Aufwachsen ihrer Tochter Herveva. Die so geschaffene Chronik startet 1998 im SĂ€uglingsalter der Tochter und endet 2009 mit einem heranwachsenden MĂ€dchen zu Beginn der PubertĂ€t. Das entstandene âöffentlichen Fotoalbumâ vereint theatralische Darbietungen Hervevas und dokumentarisch anmutende Momentaufnahmen. Auch Abbildungen von offenbar durch das Kind angefertigten Installationen im hĂ€uslichen Umfeld – als kleine Zeugnisse kindlichen Schöpfergeistes – ergĂ€nzen das PortrĂ€t dieser Mutter-Tochter Beziehung. Neben der Sichtbarmachung einer zeitlichen Abfolge reflektieren die Fotografien auch die wachsende Autonomie des Kindes. Die dargestellten, sich erweiternden HandlungsrĂ€ume und Erfahrungshorizonte sind nicht zuletzt die spielerische IdentitĂ€tsfindung Hervevas im Wechselspiel mit ihrer Mutter. Obwohl die Fotografin und alleinerziehende Mutter bis auf vereinzelte Ausnahmen nicht im Bildraum zu sehen ist, ist ihre Anwesenheit durch die vertraute, private Bildsituation implizit. So wandelt sich die Ausrichtung der Fotoserie von einer mĂŒtterliche Beobachterperspektive ĂŒber den zeitlichen Verlauf hinweg hin zu einer kindlichen, offenbar eigenmĂ€chtigen und selbstbestimmten Inszenierung der Tochter. Das SpannungsverhĂ€ltnis von sich prĂ€sentieren, auf eine bestimmte Art und Weise gesehen werden wollen und externem Blick scheinen dabei parallel zum fortschreitenden Alter des MĂ€dchens immer stĂ€rker ineinander zu flieĂen.
Gleichwohl es der europĂ€ischen Kunstgeschichte nicht an Kinderbildnissen zu mangeln scheint – etwa in der Gestalt von Mariendarstellungen mit dem Jesuskind als Inkunabel westlicher Bilderzeugnisse â so entsteht das Konzept und die Darstellungen von Kindheit wie wir sie heute begreifen erst Anfang des 19. Jahrhunderts. Kindermotive in der bildenden Kunst spiegeln in besonderem MaĂe gesellschaftlichen Wandel und pĂ€dagogische Neuerungen. Sie reflektieren gleichermaĂen kollektive Vorstellungen wie sie diese als VerstĂ€rker geltender Normen etablieren und verbreiten.
â2 Ein Kindâ wurde 2009 im MĂŒnchner Stadtmuseum prĂ€sentiert. Das hier vorliegende Werkim speziellen hat zudem einen kleinen Gastauftritt im Capriccio Beitrag des Bayrischen Rundfunks âArtothek: Kunst fĂŒr alle!â aus dem Jahr 2024.
TEXT: Adrian Kunder, 2025.